Betrachtet man in der Schillerstraße die Anwesen der Hausnummern 10 und 12, so unterscheiden sie sich äußerlich nur wenig voneinander. In den Jahren 1867–1870 in spätklassizistischer Bauweise als spiegelbildlich-symmetrische Anlage durch den Fürther Architekten Jakob Meyer (Firma Hofmann und Meyer) errichtet, variieren sie nur in einigen Details der Fassadengestaltung. Sofort fällt jedoch über dem Tor der Hausnummer 10 eine Gedenktafel mit Reliefbüste ins Auge, die an Bertha Baudracco-Wolf und ihre Vorfahren erinnert, deren Familiengeschichte und Lebensweg jedoch nur den wenigsten Fürthern bekannt sein dürfte. Wer also war diese Frau und welche Rolle spielte das Haus Schillerstraße 10 in ihrem Leben?
Berthas Ururgroßvater Johann Burkhard Wolf wurde am 17. Oktober 1700 vermutlich in Bamberg geboren, erhielt nach dem Studium der Jurisprudenz und Philosophie in Altdorf und Jena die Doktorwürde beider Rechte und wurde 1729 in das Kollegium der Advokaten der Reichsstadt Nürnberg aufgenommen und 1757 zum „Curator gerichtlicher und anderer Sachen“ ernannt. 1729 heiratete er die in Leipzig geborene und in Nürnberg aufgewachsene Juliana Sophia Freund, mit der er fünf Kinder hatte, zwei Töchter und drei Söhne, von denen der jüngste, Christoph August Wolf (1736–1816), wie sein Vater Jurist, zum kaiserlichen Notar in Langenzenn bestellt wurde, wo er sich 1788 mit Apollonia Sixtus (1750–?) vermählte. Beider Sohn, Johann Georg Wolf (1793–1842), schlug nicht mehr die akademische Laufbahn ein, sondern widmete sich als „Bürger und Ökonom“ der Bewirtschaftung seines Landbesitzes, den die Familie wohl im Laufe der Jahre erworben hat. Am 29. März 1837 schenkte seine Ehefrau Barbara Hoffmann (1799–1869) ihrem zweiten Kind Johann Georg Nikolaus Wolf das Leben, dem Vater Bertha Emilies. In Fürth ansässig war dieser seit 1863, nachdem seinem Gesuch an den dortigen Stadtmagistrat um die Erteilung einer Konzession als Flaschnermeister entsprochen worden war. Ab 1872 erscheint er in den Fürther Adressbüchern als erster Eigentümer des Anwesens Schillerstraße 10, wo er äußerst erfolgreich eine kleine Fabrik für Blechspielzeug und Blechblasinstrumente betrieb, wie aus seiner Bezeichnung als „Spielwaren-“ beziehungsweise „Trompetenfabrikant“ hervorgeht. Seit 1864 verheiratet mit Elisabeth Bauer (1840–1903), wurde am 1. Januar 1873 die Tochter Emilie Bertha als zweites Kind der Eheleute geboren. Spätere Angaben, die als Geburtsjahr 1878 nennen, sind unrichtig. Am 5. April 1871 war Sohn Johann Friedrich zur Welt gekommen, ein weiterer Sohn, Karl Wilhelm, folgte am 16. Juli 1874.
Die junge Bertha verlebte allem Anschein nach in der Schillerstraße 10 eine unbeschwerte Kindheit. Viele Stunden verbrachte sie im Betrieb des Vaters, an dem sie sehr hing, und verfolgte seine Tätigkeit mit lebhaftem Interesse. Umso härter traf sie sein früher Tod 1887 im Alter von nur 50 Jahren. Schweren Herzens musste seine Witwe das Unternehmen aufgeben, da ihre Kinder noch zu jung waren, um die Nachfolge des Vaters anzutreten, doch das Haus in der Schillerstraße verblieb im Besitz der Familie Wolf.
Über die nächsten Lebensjahre Bertha Wolfs bis zu ihrer Eheschließung ist nichts bekannt. Am 5. August 1893 heiratete sie den aus Schleiden, Regierungsbezirk Aachen (heute Kreis Euskirchen, Nordrhein-Westfalen), stammenden und seit etwa zwei Jahren in Fürth lebenden Ludolf Friedrich Holle (25. Mai 1867–?), der im selben Jahr vom Königlichen Oberbahnamt Nürnberg zum „Eisenbahnadjunkten“, worunter der Gehilfe eines Beamten zu verstehen ist, ernannt worden war, doch stand die Ehe unter keinem günstigen Stern. Die zwei Kinder verstarben noch im Säuglingsalter, Elsa (17. Juli 1893–27. August 1893) und Erich (4. Dezember 1894–8. März 1895), für die junge Frau sicherlich eine der „Bitterkeiten des Lebens“, von denen später ihr zweiter Ehemann Mario Baudracco spricht.
1897 hieß es für Bertha Abschied nehmen von Fürth und von der Schillerstraße, wo sie auch nach ihrer Verheiratung gelebt hatte, als ihr Ehemann zunächst nach Pleinfeld und ein Jahr später nach München versetzt wurde. Noch vier Jahre hielt danach die Ehe mit Friedrich Holle, bevor sie am 19. Dezember 1902 geschieden wurde. Über die näheren Umstände verlautet nichts; „aus Verschulden des Beklagten“ heißt es lediglich lapidar in amtlichen Angaben zum Personenstand. Das gemeinsame Wohneigentum in der Münchner Orffstraße musste aufgegeben und 1906 sogar zwangsversteigert werden. Bertha blieb in München, wo sich zwischenzeitlich auch ihr jüngerer Bruder Wilhelm, der laut Meldebogen als „Magazinier“ tätig war, niedergelassen hatte, mit dem sie anscheinend zeitlebens ein besonders herzliches Verhältnis verband. Der ältere Bruder Friedrich fand in Berlin als Kaufmann sein Auskommen. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie nach der Scheidung offenbar zeitweilig als „Kleidermacherin“, wird im polizeilichen Meldebogen der Stadt München aber auch als „Privatiere“ geführt, bezog also möglicherweise eine Art Rente.
Das Anwesen Schillerstraße 10 befand sich von 1893 bis zur Scheidung 1902 im gemeinsamen Besitz Bertha und Friedrich Holles; Elisabeth Wolf wird bis zu ihrem Tod 1903 nur noch als Bewohnerin des Hauses in den Adressbüchern der Stadt Fürth genannt.
Ein neuer, glücklicherer Lebensabschnitt begann für Bertha, als sie den aus Italien stammenden Ingenieur Mario Baudracco (5. Mai 1877–?) kennen lernte, den sie am 9. November 1910 heiratete. Ungewöhnlich ist der Ort der Eheschließung, die in London stattfand, allem Anschein nach im Laufe einer mehrjährigen Reise des Paares durch Italien und England. Wie aus ihrem Münchner Meldebogen hervorgeht, war im Mai 1909 für Bertha ein Pass für einen dreijährigen Aufenthalt in diesen Ländern ausgestellt worden. Im November 1909 erscheint sie allerdings noch als „falsch angemeldet“ unter einer Münchner Adresse als Ehefrau von Mario Baudracco unter dessen Namen. Um 1911 ließen sich die Eheleute dann offenkundig in Gries (bei Bozen; 1925 eingemeindet) nieder, denn dorthin hatte sich auch Berthas Bruder Wilhelm am 16. November 1911 aus München abgemeldet.
Doch noch immer kehrte keine Ruhe in Berthas Leben ein. Im Ersten Weltkrieg verlor das Ehepaar Baudracco nicht nur vorübergehend Hab und Gut, sondern war auch zur Flucht gezwungen, da zwischen 1915 und 1918 der Alpenraum Hauptkriegsschauplatz zwischen Österreich und Italien war. Südtirol mit Bozen, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Kaiserreich Österreich-Ungarn gehörte, wurde 1919 abgetrennt und fiel an Italien. Die Kriegszeit verbrachten die Eheleute in Mailand, wo Bertha den Entschluss fasste, vom protestantischen zum katholischen Glauben überzutreten. Nach dem Krieg konnte das Paar nach Gries zurückkehren, wo Bertha mit ihrem Ehemann bis zum ihrem Tod am 10. Februar 1941 lebte. Schwer traf sie 1937 der Tod ihres Bruders Wilhelm. Ihr älterer Bruder Friedrich war zu diesem Zeitpunkt noch am Leben.
Berthas Ururgroßmutter Juliana Sophia Wolf war im Jahr 1750 verstorben. Ihr Ehemann, von großer Trauer um sie erfüllt, gab im selben Jahr als „Denckmal der Liebe“ ihre von ihr selbst verfasste Lebensgeschichte im Druck heraus. Ähnlich tief betrübt muss Mario Baudracco über den Tod seiner Frau gewesen sein. Noch in ihrem Todesjahr erschien die Schrift Juliana Sophia Wolfs unter dem Titel „Selbstverfasster Lebenslauf einer Streiterin Christi im 18. Jahrhundert“ als „Neue vom Ingenieur Mario Baudracco herausgegebene Auflage zum Andenken an seine im Februar 1941 heimgegangene Gattin“, worin er die Aufzeichnungen Juliana Sophias um eine Zusammenfassung der Geschichte der Familie Wolf und eine kurze Skizze über das Leben Berthas ergänzt.
Darin schildert Mario Baudracco seine Frau als starken Charakter, der sie Schicksalsschläge geduldig ertragen ließ, ohne dabei aber die Lebensfreude zu verlieren. Lobend hebt er ihr Sprachtalent hervor – sie beherrschte das Italienische in Wort und Schrift – sowie ihr Verständnis für technische Fragen, das sie seit den Kindheitstagen im väterlichen Betrieb in Fürth bewahrt hatte. Dadurch konnte sie ihrem Mann bei seiner Tätigkeit „im Dienste der Wasserkraftindustrie und des Eisenbahnwesens“ stets wertvolle Hilfe und Unterstützung leisten, insbesondere bei seinen Geschäftsbeziehungen zu deutschen Firmen.
Ihre Geburtsstadt dürfte Bertha Baudracco nach ihrem Weggang aus Fürth wahrscheinlich nicht mehr allzu häufig aufgesucht haben, wenn sie auch bis zu ihrem Tod als Eigentümerin des Anwesens Schillerstraße 10 in den Fürther Adressbüchern aufgeführt wird. Noch bis 1976 erscheint anschließend Mario Baudracco als Eigentümer. Sicherlich geht auf seine Initiative auch die Anbringung der Gedenktafel an der Hausfassade zurück, um die Erinnerung an seine Frau aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus bringt sie jedoch zum Ausdruck, wie wichtig für Bertha Baudracco-Wolf selbst ihre Herkunft aus Fürth und die Verwurzelung ihrer Familie in Franken gewesen sein muss.
Quellen und Literatur:
Stadtarchiv Fürth:
▪ Fach 18 a/W 288
▪ Fach 18 a/H 1251
▪ Familienbogen Holle, Ludolf Friedrich
Stadtarchiv Nürnberg:
▪ B 11 Nr. 125
▪ GSI 92
Stadtarchiv München:
▪ PMB H-352
▪ PMB W-297
Landeskirchliches Archiv Nürnberg:
▪ Kirchenbücher Langenzenn I und II
Habel, Heinrich: Stadt Fürth. Ensembles, Baudenkmäler, archäologische Denkmäler (Denkmäler in Bayern 61), München 1994, S. 352.
Will, Georg Andreas: Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon, Vierter Theil, Nürnberg und Altdorf 1758, S. 294–296.
Georg Andreas Will’s Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon, ergänzet und fortgesetztet von Christian Conrad Nopitsch, Achter Teil oder vierter Supplementband, Altdorf 1808, S. 422.
Wolf, Juliana Sophia: Selbstverfasster Lebenslauf einer Streiterin Christi im 18. Jahrhundert. Neue vom Ingenieur Mario Baudracco herausgegebene Auflage zum Andenken an seine im Februar 1941 heimgegangene Gattin Frau Bertha Emilie Baudracco-Wolf, Gries-Bolzano und Fürth bei Nürnberg 1941.